Dornröschen

DORNRÖSCHEN
    
Das Gewitter war vorübergezogen,
die Abendsonne hatte sich schon hinter dem Planetarium
verkrochen. Ich schlenderte
durch den dampfenden duftenden Rosengarten.
    
Eine eben aufgeblühte pfirsich-
rotgoldene Rose stach mir ins Auge.
Ich beugte mich über sie, sog ihren Duft ein.
Diese Rose will ich meinem Dornröschen schenken!
Mit bloßen Händen versuchte ich, sie zu rauben,
und holte mir zwei blutige Daumen.
Ich ging in die Knie, sammelte meine schwachen Kräfte
und spürte, es ist leichter,
mir die Knochen als eine keusche Rose zu brechen.
Herzüberkopf fiel ich unter die Dornen.
Meinem himmlischen Nothelfer sei Dank:
Meine Brille hat mich geschützt.
Ich hatte keinen Splitter im Auge.
Aber ich hatte eine zerkratzte Stirn.
Mühsam richtete ich mich wieder auf:
Mit der gebrochenen Rose in der Hand,
mit blutender Stirn und im Kopf den Spruch:
es gibt keine Rose ohne Dornen.
Es gibt kein dornenloses Rosenglück.
Die schönsten Rosen haben die stärksten Dornen,
Sie gehen unter die Haut,
sie stechen ins Herz.
    
Mit verwischten Tränen unter den Augen,
mit verbundenen Daumen
und mit klammem Herzen klopfte ich
am andren Morgen an Dornröschens Tür.
Um Gottes Willen, rief sie, was ist passiert?
Bist du unter die Räder gekommen?
Nein, ich bin unter die Dornen gefallen!
Ich sank vor ihr in die Knie
und reichte ihr die Rose, die ihr
wie aus dem Gesicht geschnitten war.
Mein Dornröschen lachte Tränen,
sie badete meine Hände in Rosenwasser,
und sie zupfte mit ihrer Pinzette behutsam
die Dornensplitter aus meinen Daumen,
aus meinen Stirnfalten
und aus meinem verwundetem Herzen.
   
PETER SCHÜTT