Die Rettung meines Feigenbaums

Es wird höchste Zeit.

Meine Wohnung am Wesselyring

wird wie alle Wohnungen in unserer Häuserzeile

grundsaniert. Mit Rücksicht auf mein fortgeschrittenes Alter

werde ich in eine Ersatzunterkunft umquartiert.

Es ist sicher nicht leicht, einen schrulligen alten Baum

wie mich zu verpflanzen, und seien es auch nur

ein paar tausend Meter weiter in den Osten.

Aber wer es im Jahr zuvor noch geschafft hat,

zusammen mit seiner Liebsten

zu Fuß in drei Tagen neunzig Kilometer

quer durch die irakische Wüste

von Nadjaf nach Kerbela zu pilgern,

der schultert einen Umzug

von Winterhude nach Barmbek mit links.

Ich habe meine Last mit dem Fahrrad

vor mir her geschoben eingedenk

des altbewährten Grabspruches:

„Wir sind nur Gäste und Fremdlinge

auf Erden. Wir haben hienieden keine bleibende Stätte.

Die künftige suchen wir.“

Als Stadtnomade pendle ich

Zwischen zwei Behelfsunterkünften hin und her.

Jeden Tag radle ich zurück in den Wesselyring,

um nach meiner Post und nach dem Rechten zu schauen.

Das ist ein paar Tage gut gegangen, aber heute

Ist mir der Schreck in die Glieder gefahren.

In meiner angestammten Wohnung

ratterten und rackerten zwei Männer

mit Gasmasken und Schutzanzügen.

Sie mühten sich, die Wände im Flur vom Asbest

zu reinigen. Die Tür zum Balkon war versiegelt.

Ich hatte zwei Eimer voller Wasser

mit in meinen dritten Stock getragen,

um meine Blumen und Kräuter zu gießen.

Ich schaute durchs Küchenfenster

und ließ ratlos meinen Kopf und meine Arme hängen.

In der prallen Sonne stand mein Feigenbaum

und ließ all seine Feigenblätter tief herabhängen.

Mein Baum war am Verdursten.

Ich habe ihn mit eigener Hand groß gezogen.

Er ist mir ans Herz gewachsen,

er ist mir sogar über den Kopf gewachsen.

Ich schaue zu ihm auf. Er ist mir heilig.

Ich habe ihn dazu ausersehen,

eines guten Tages über meinem Grab

weiter in die Höhe zu wachsen

und später meinen Kindeskindern

den Mund mit saftigen Feigen wässrig zu machen.

Ich kann und will meinen Baum

nicht vertrocknen lassen – so wie Jesus,

der einen Feigenbaum gnadenlos verdorren ließ,

weil er für seinen hungrigen Magen

keine reifen Früchte parat hatte.

Was tun? Sprach Lenin.

Ich wusste, was in dieser Stunde zu tun war.

Ich suchte Rat und Tat beim Allermächtigsten.

Mein heißer Draht nach hoch oben ist kurz,

und ich weiß, dass Gott im Himmel auch keine lange Leitung

zu uns Erdlingen hat. Ich mache Duah

für meine Schwester die dürstende Feige,

ich nehme meine Gebetskette zur Hilfe

und warte in Geduld und Gottvertrauen

auf Antwort von oben. Und siehe da: sie kommt wie gerufen –

geradewegs aus dem Himmel herab auf meinen Feigenbaum

und auf mich, seinen Gärtner.

Die Arbeiter machen gerade Mittagspause

und schalten ihre Bohrmaschinen aus.

Und jetzt höre ich einen ganz anderen, transzendentalen Lärm.

Gott hat alle Hebel in Bewegung gesetzt,

er lässt es auf seine Art krachen,

er lässt es donnern,

er schiebt dunkle Wolken vor,

er öffnet seine Schleusen und lässt es in Strömen regnen.

Aber noch steht meine Feige unter dem Balkondach

Im Trockenem. Nicht mehr lange.

Schon lässt mein Wettergott seine Winde blasen.

Eine stramme Böe aus Südwest schüttet die Regentropfen

auf die dürstenden Kehlen der Feigenblätter.

Und dann lässt Gott seine Engel schnell noch eine weitere Leitung

vom Himmel auf die Erde legen. Er lässt den Blumenkasten

auf dem Balkon über mir überlaufen

und lenkt wie Männeken Pis seinen englischen Wasserstrahl

schräg von oben direkt auf die noch erschlaffte,

aber bald schon wieder aufgerichtete Baumkrone.

Das reinigende Gewitter wirkt Wunder.

Sogar die Abbrucharbeiter können aufatmen.

Die frische Luft tut ihnen gut.

Auf dem Balkon erhebt mein geretteter Feigenbaum

seine erfrischten und neu belebten Blätter

zum Dankgebet.

PETER SCHÜTT (13.6.2019)