LEERE BALKONE

Das Altersheim ist ein Neubau. Drei Stockwerke

mit Einzimmerwohnungen: zur Straße hin

ausgestattet mit geräumigen Balkonen.

Wenn ich vormittags auf dem Weg zum Einkaufen

an ihrem Heim vorbeiradelte, winkte mir Brunhilde,

manchmal noch im Nachthemd, aus dem dritten Stock zu

und wünschte mir einen guten Tag und guten Weg.

Eines Morgens blieb ihr Platz leer.

Die roten Geranien auf ihrem Balkon

blühten noch eine Woche. Dann ließen auch sie

die Köpfe hängen und verdorrten.

Nur ihr Kater strich noch wochenlang ums Haus herum.

Sie blieb nicht die einzige, die meinen Blicken entschwand.

Immer mehr Balkone verwaisten.

Das Blattgrün vergilbte. Selbst die Sonnenblumen

knickten ein, als die Drosseln versuchten,

die letzten Kerne aus dem Blütenkorb herauszupicken.

Leere Fensterhöhlen starrten mich an.

Das Heim wurde unter Quarantäne gestellt,

allen Besuchern der Zutritt verwehrt.

Den Toten blieb das Totengebet versagt.

Sie wurden in Reihengräbern begraben,

als wären sie im Krieg gefallen.

Als wären sie die leibhaftigen Todesengel,

schleppten die Seuchenjäger in ihren kalkweißen Overalls

prallgefüllte schwarze Müllsäcke an den Straßenrand.

Die Elstern und Krähen hatten das Nachsehen.

Jetzt sind mehr als die Hälfte der Fenster leer.

Manchmal spiegelt sich in ihnen die Abendsonne.

Hinter den restlichen Fensterkreuzen brennen Kerzen –

zum Gedenken an die Nachbarn, deren Zimmer jetzt leer stehen.

Wo sind sie geblieben?, frage ich den Heimleiter, der mich kennt,

weil ich manchmal bei ihm Flugblätter verteilt habe.

Sie sind weiter gezogen. Ja, sage ich, sie sind uns vorausgegangen.

Sie leben jetzt in einer anderen Welt. So schlimm, meint er,

kann es da oben nicht sein. Es ist ja noch keiner – außer Jesus vielleicht –

von dort zurückgekommen. Als ich aufschaue,

winkt mir Brunhilde in ihrem Totenhemd

von ihrer Balkonbrüstung zu. Beeil dich, ruft sie,

und bring mir ein Brötchen mit!

 

PETER SCHÜTT